Die erste Rezension von „zusammen bleiben“. Von der Autorin Ute Bales.
„zusammen bleiben“ – ein Roman von Sylvia Schmieder. Rezension: Ute Bales
Erstaunlich, was sich erleben lässt, wenn man die eigene Familiengeschichte durchforscht.
Sylvia Schmieder beginnt ihren 324 Seiten starken, fulminanten Familienroman mit einer heiteren Szene: Die Großmutter breitet die Arme aus und Claudia, die Enkelin, rennt in sie hinein „wie ein Pfennig in einen Magnet.“ Diese beiden Frauen bilden die Klammer des Romans, der sich dann in 30 Kapiteln entfaltet. Die Großmutter Mari, die im Dreiländereck Ungarn-Slowakei-Österreich aufwächst, will Schriftstellerin werden. Ihr Mann Ludwig hat andere Dinge im Kopf. Die Nazis bieten ihm Perspektiven und Mari zieht mit ihrem Mann und den Kindern nach Frankfurt, bereut aber bald, ihm gefolgt zu sein. Es sind nicht nur der Krieg und Ludwigs Arbeit bei der Waffen SS, sie vermisst ihr Land und ihre Sprache. Als Ludwig eine Affäre beginnt, geht sie zurück in die Slowakei. Dort wird 1944 ihr Bruder Peter wegen seiner kritischen Berichterstattung als Journalist von der Gestapo verhaftet und nach Mauthausen verschleppt. Etwa zeitgleich beteiligt sich Ludwig an Massenerschießungen in der Ukraine.
Der andere Strang des Romans erzählt die Geschichte der Enkelin Claudia, die nicht nur von der Sprachenvielfalt der Großmutter fasziniert ist. Für sie ist die Großmutter ein Anker, eine „Menschenmischerin“, wie sie sie nennt, die sich, wie niemand sonst, auf die Kunst der Worte versteht. Wenn sich die Großmutter mit ihrer Familie unterhält, dann sind sie „die Familie mit den besonderen Wörtern“. Die Großmutter ist auch diejenige, die Kraft gibt: „Wenn sie sich umarmten, schossen Claudia die Kräfte nur so in die Glieder, dass sie gleich weiterlaufen musste, die Fäuste ballte und schrie ….“ (Seite 5) Eine der Schlüsselszenen des Romans findet sich gleich zu Beginn. Die Großmutter zeigt ihrer Enkelin, wie sie aus dem, was im eigenen Garten wächst, eine Kräuterolle macht: Sauerampfer, Petersilie, Pimpinelle, Schnittlauch, Estragon, Boretsch. „Die Rolle schmeckte scharf, sauer und bitter zugleich, sogar ein wenig Süße steckt in ihr – also schmeckte sie eigentlich nach allem … “ (Seite 11) Diese unterschiedlichen Ingredienzen versinnbildlichen die „Wildnis“ dieser verzweigten Familienkonstellation und Claudia spürt, wie sie beim Verzehr der Kräuterrolle „Teil des Undurchdringlichen, Unverständlichen wird.“ (Seite 12)
Was sich bei der Großmutter als sprachliche und emotionale Energie entlädt, sucht Claudia bei der eigenen Mutter vergeblich. In ihrem Verhältnis gibt es eine Leerstelle, die beide auf unterschiedliche Weise zu füllen versuchen. Die Mutter spricht kaum über Widerfahrenes, obwohl sie Krieg und Flucht erlebt hat. Aufopfernd kümmert sie sich um Claudias behinderten Bruder und spürt nicht, wie die eigene Tochter leidet und zusehends vereinsamt. Überhaupt bemerkt niemand die Nöte des Mädchens, selbst dann nicht, als Claudia eine Magersucht entwickelt. „Sie trank auch nur noch Wasser, das fiel gar nicht auf. Gar nichts von all dem fiel auf, wie immer, ihre Mutter hatte andere Sorgen, ihr Vater war bei der Arbeit oder spielte Klavier und ihre Geschwister verstanden nichts, ganz wie sie selbst“. (Seite 203).
Mit den Frauenfiguren ihres Romans gibt Sylvia Schmieder dem Krieg ein weibliches Gesicht. Auf gewisse Weise ist das Buch der Versuch, zwischen drei Generationen zu vermitteln. Indem die Autorin Szenen aus dem Alltag herausgreift, kleine Momente und Episoden, Streitereien und Wortwechsel, Sorgen, Nöte und verpasste Gelegenheiten, lotet sie gleichzeitig die Untiefen der Lebensumstände aus, das nicht zu Verstehende, das Unergründliche, die Risse, die sich durch die Familie ziehen. „Er steht langsam auf, zieht sich in sein ehemaliges Arbeitszimmer zurück und kramt in den Resten seines Bündels, dessen brüchige Schnur er gestern mit eine unheimlichen Mischung aus Seufzen und Stöhnen zerrissen hat.“ (S. 297)
Sylvia Schmieder erweist sich mit ihrer bilderreichen Sprache als feinsinnige Beobachterin: „Sie sieht einem Amselpärchen auf dem Rasen zu, wie es nasse Blätter beiseite wirft, Würmer pickt. Sie hört dem Wasserhahn zu, der tropft, aber ganz langsam, während es sich draußen einregnet. Es ist, als bekäme das Haus eine Gänsehaut.“ (Seite 83)
Der opulente Roman, akribisch recherchiert, zeigt die Auswirkungen der NS-Zeit bis in die dritte Generation und macht deutlich, dass die Geschichte von Nazi-Diktatur und Holocaust Menschheitsgeschichte ist. Niemand kann sich herausnehmen, jeder leidet für sich. Ganz besonders, wenn die Auseinandersetzung fehlt. Die Kapitel fügen sich am Ende zusammen und zeigen, wie fest, aber auch wie zerrissen Familienbande sein können.
Was Claudia betrifft, so ist am Ende klar: Ohne den Krieg und seine Folgen wäre aus ihr ein ganz anderer Mensch geworden. Was macht uns schließlich zu dem, was wir sind?
Im letzten Kapitel verneigt sich die Großmutter mit einem anrührenden Satz vor ihrer Enkelin: „Das war ja ein Stückchen Leben, du konntest es nur nicht richtig erkennen …“ (Seite 320)
„Zusammen bleiben“ ist ein berührendes Portrait einer Zeit und seiner Menschen, das unter die Haut geht.
Unbedingt empfehlenswert.
März 2024
Lesetipp von Sylvia Schmieder: In Wahrheit eine/ganz und gar unpathetische Ruhe. Zu Jakob Leiners Gedichtband „Gewetter“.
Der 1992 geborene Arzt und Lyriker Jakob Leiner hat mit „Gewetter“ seinen vierten Gedichtband vorgelegt. Diesmal sind es lyrische Notizen zu Reisen, überschrieben schlicht und sachlich mit Datum, Ort und Uhrzeit – etwas wie ein poetisches Tagebuch also, aus Orten quer durch Europa, darunter auch aus der Freiburger Regio. Das Thema in Variationen: Mensch und Natur(-zerstörung). Da gibt es Berichte zu Wanderungen mit so unprätentiösen wie treffenden Versen wie Was dieser Tag gebracht hat/in der Tasche/5 Steine/in Wahrheit eine/ganz und gar unpathetische Ruhe. Auch leichte, verspielte, humorvolle Gedichte wie die über den Schwarm der Störche, die „in sorgsamer Spirale“ steigen, um dann zusammen wieder zu fallen aus bleierner Luft. rum/wa fragt sich der mit ihnen fallende Beobachter, um sich selbst zu antworten: irgendwas mit dem Wetter/muss es sein. Andererseits bleibe ich an intellektuell-spröden Versen hängen, wissenschaftlichen Fachbegriffen, assoziativ Verrätseltem, das mir die Lesefreude nimmt, weil ich den Verdacht nicht loswerde, dass es sich bedeutsamer gibt, als es ist. Warum es sich für mich unbedingt gelohnt hat, dranzubleiben? Wegen dieser speziellen Mischung aus trockener Ironie und sinnlicher Begeisterung, wegen Versen wie diesen über das „Castello di Duino, bei Trieste“:
unter donnernder Bläue/Gellen des obersten Reihers/der sich in die Adria stürzt/hier wird es begrüßt/von Engeln zu reden/wie ein Licht das alle/Helligkeiten trägt/als altes Flüstern/fortgetragen/die Adern voll Dasein. (…) aber bitte/nicht so stürmisch.
Jakob Leiner, Gewetter. Gedichte. Qintus-Verlag Berlin, 2022, 18 €.
„Saling aus dem Wald“ ist unter den drei „Herzenstiteln 2023“ der Buchbloggerin #xlcoffeequeen. Es ist mir eine Ehre.
Dank an Anton G. Leitner: Das neue „Gedicht“ ist da, auch mit einem leiselauten Beitrag von mir.
Britta Röder hat auf booknerds.de eine ausführliche Version ihrer Rezension eingestellt.
Siehe hier. Ich bin sehr dankbar für diese intelligente und einfühlsame Besprechung.
Lust auf japanische Kurzgedichte? TANKA-Schreibwerkstatt mit Tony Böhle, 25. bis 27. August 2023 in Fuldatal bei Kassel.
Eine Rezension der Buchbloggerin #xlcoffeequeen zu „Saling aus dem Wald“
Wie wäre es, wenn man direkt mit der Natur sprechen könnte?Würden Mensch u.Natur sich überhaupt noch verstehen?
In ihrem Roman verwandelt @sylvia_schmieder diese Gedanken in einen märchenhaft anmutenden Prosatext. Sie erfindet Saling, ein zauberhaftes Naturwesen, einen liebenswerten Gestaltwandler, der von Neugier getrieben den Weg in die Menschenwelt wagt.
Schmieder verzaubert ab dem ersten Satz. Ihre Prosa ist lautmalerisch perfekt komponiert. Ihre Beschreibungen lassen die Natur wie eine phantastische Szenerie erscheinen. Eine fremde magische Welt, in der alles lebt, alles atmet. Ein völlig intaktes in sich geschlossenes System, ohne Menschen.
Saling ist eine Figur, die sich leicht in die Herzen schreibt. Nie geht von ihm eine Bedrohung aus. Sein Tun ist völlig absichtslos. Ihn trägt kein menschliches Sendungsbewußtsein.Die einzige Weisheit, die er in sich trägt, ist die Natur selbst.
Schmieder lässt ihn exemplarisch auf verschienene Personen treffen.Doch die Menschen begreifen Saling nicht oder interpretieren ihn falsch. Das führt zu Missverständnissen. Man reagiert mit falschen Erwartungen, Ängsten, Sensationslust u. Profitgier. Einzig der Kontakt zum Mädchen Mascha lässt – dank deren kindlicher Unvoreingenommenheit – ein Gefühl der Nähe entstehen.
Die Botschaft Schmieders ist unmissverständlich: Nicht Saling ist der Fremde, der nicht in die Welt passt. Es ist der Mensch, der sich längst der eigenen Welt entfremdet hat.Der Mensch ist für sich selbst zur größten Gefahr geworden.
Ihrer Zivilisationskrikitk stellt die Autorin einen deutlichen Natur-Optimismus zur Seite. Sprachgewaltig erweckt Schmieder die Natur zum Leben. Die belebte Welt ist dabei mehr als nur zeitlos schöne Kulisse für die archaische Hauptfigur. Sie ist Ausgangs- und Endpunkt, nicht nur im Sinne der erzählten Geschichte. Und da sie die Zeit auf ihrer Seite hat, ist sie am Ende immer die Überlebende.
Die Natur braucht den Menschen nicht. Sie wird auch ohne ihn bestehen.
Danke @edition_federleicht
Große Lese-Empfehlung!
Das neue YouTube-Projekt „das tagesgedicht“ sendet Lyricclips mit Witz und Eigensinn. Mitmachen erwünscht.
In und um Freiburg hat sich eine kleine Gruppe von Lesenden und Schreibenden zusammengetan und ein überregionales YouTube-Projekt für Lyrik und Kürzesttexte ins Leben gerufen. Unter dem Stichwort das tagesgedicht findet man Lyricclips mit Witz und Eigensinn, die sich kostenfrei abonnieren lassen. Wer Interesse hat, dort selbst einen Clip zu veröffentlichen, wendet sich per E-Mail an patrik.schulz@zone1001.de. Für die Aufnahmen der Gedichte/Texte ist jede*r Autor*in selbst verantwortlich. Für Schnitt, Upload und Sendemanagement wird eine kleine Aufwandsentschädigung fällig.
Der direkte Link zum tagesgedicht: https://www.youtube.com/@dastagesgedicht-qb2dt
René Zipperlen in der Badischen Zeitung zu den „Freiburg Meditationen“. Eine kluge, sorgfältige Rezension, die mir Freude gemacht hat.
Heide Jahnke, der Flötist Christoph Haarmann und ich, gestern im „Café con Dios“ in Kirchzarten.
„Saling aus dem Wald“, besprochen von #erlesenundgenaeht
Lesung mit Heide Jahnke: am 2.5., 18 Uhr, in Kirchzarten.
Lesung mit Musik:
Stadt Land Wald – Worte für Orte
im Café con Dios
Evang. Gemeindezentrum Kirchzarten
Schauinslandstr. 8, 79199 Kirchzarten
Lyrik und Prosa von Heide Jahnke und Sylvia Schmieder. Musik von Christoph Haarmann.
– Eintritt frei –
Heide Jahnke liest aus ihren Gedichtbänden von diesem impertinenten grün, fliegen oder bleiben (beide Janzen Verlag)und Des Käfers Menetekel (Drey Verlag). Ich selbst aus dem Roman Saling aus dem Wald und aus den Freiburg Meditationen, beide edition federleicht.
Lust auf einen ungewöhnlichen Lesekreis?
Bei mir sind noch Plätze frei! An der PH Freiburg, weitere Informationen und Anmeldung hier.