Journalistisch

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Freiburger Schreibkiste

Lesetipp: Sisyphos in Klickpedalen. Joachim Zelters „Im Feld“ ist eine brillante Parabel auf eine Sinnsuche, die die verzweifelte Anstrengung zum Wert an sich erklärt.

9. September 2019 · by Sylvia Schmieder · in Nachrichten

Der in Freiburg geborene Joachim Zelter hat sich mit Romanen wie „Briefe aus Amerika“, „Schule der Arbeitslosen“ und „Der Ministerpräsident“ einen Namen gemacht und zahlreiche Preise gewonnen. Doch sein Roman „Im Feld“ lag lange ungelesen bei mir herum. Ein Rennradfahrerroman? Nichts für mich!, war ich mir sicher. Aber einmal begonnen, las ich ihn an einem Tag, unterbrochen von minimalen Pausen zur Nahrungsaufnahme, und hatte mich am Ende nicht nur diesbezüglich tief in den Protagonisten eingefühlt.

Frank Staiger ist frisch nach Freiburg im Breisgau gezogen, ohne so recht zu wissen, warum. Sein Leben ist leer, seine Lebensgefährtin macht sich Sorgen. Sie ist es, die den Hobbyrennradler auf einen Verein aufmerksam macht – und die Parforce-Fahrt beginnt: Unversehens gerät er in eine Gruppe, die alles, aber auch wirklich alles aus sich herausholt. Dem Sog dieser Geschichte zu widerstehen ist auch deshalb so schwer, weil sie ganz unaufdringlich als Parabel erzählt wird: auf Leistungsdruck, Leidenschaft, Verschmelzungssehnsucht, ja auf das Leben überhaupt. Schon das vorangestellte Motto, ein Camus-Zitat aus dem „Mythos von Sisyphos“, zeigt, wo es langgeht: Richtung Sinnsuche in absoluter Sinnlosigkeit. All die gesichtslosen Männer und Frauen, nur nach ihren Markenrädern benannt, sind auf der Flucht, fahren ihren Lebenskrisen davon, reiben sich verzweifelt auf, in dem Glauben, ihre Anstrengung sei ein Wert für sich. Ihr charismatischer Führer Landauer scheint ja mörderische Berge hinauf zu schweben wie eine Wolke. Er schenkt ihnen kleine Momente des (scheinbaren) Erkanntwerdens und beschwört die Gemeinschaft, den „geschlossenen Verband“. Im Gefühl, zu den Erwählten zu gehören, toleriert auch Frank sein zunehmend tyrannisches Verhalten, das keine Pause zulässt, kein Ausscheren. Bis auch die letzten Helden „friedlich fallen“.

Zuvor erinnerte sich der gebildete Akademiker Frank noch wie im Flug an Bernard Shaws „Pygmalion“ als einer Geschichte, in der es um die besondere Kraft der Bildung geht. „Was für eine rührselige, absurde und dumme Geschichte“, urteilt er, keine Pedalumdrehung auslassend. Heute verhalte sich alles genau umgekehrt: Um überhaupt überleben zu können, müsse man sich „entbilden“, „entgeistigen“. Erzählt werden müsse die Geschichte eines Mannes, der seinen Verstand „mit letzter Kraft herauspumpt, herauspedaliert, herausfährt. (…) Habe den Mut, dich deiner eigenen Dummheit zu bedienen!“ Eine tiefschwarze Erkenntnis, der immerhin ein halb versöhnter Schluss folgt.

Joachim Zelter, Im Feld. Roman einer Obsession. Klöpfer & Meyer, 20 €

Freiburger Schreibkiste

Steilwand mit Schweizer Plakatkunst. Im Literaturhaus gibt es ab Sonntag eine Ausstellung zu sehen, die zeigt, wie vielfältig mit der Beziehung von Wort und Bild gespielt werden kann.

13. September 2019 · by Sylvia Schmieder · in Nachrichten

Riesige und kleine, historische und aktuelle Plakate staffeln sich wie Schieferplatten bis zur Decke. Jedes kann einzeln und im Detail angesehen, aber auch als Teil eines Ganzen betrachtet werden. Die wichtigsten Informationen finden sich auf der Rückseite jedes Objektes. Umrundet man die Steilwand, gibt es einen „Gipfel“ zu entdecken, unter anderem mit einschlägigen Büchern, zusammengestellt von der Buchhandlung Klingberg. Dahinter bergen zwei begehbare Litfaßsäulen weitere Objekte, zur Luzerner Plakatkunst und zum Projekt „Swiss Style Now“.

Nach der Ausstellung zur Schweizer Schriftkunst vor einem Jahr ist die Plakatausstellung „Poesie im Weltformat“ die zweite Station einer dreiteiligen Serie, die mit den „schönsten Schweizer Büchern“ im Winter 2020 enden soll. Realisiert wurde das Projekt von Kuratorin Katharina Knüppel und Szenograf Jens Burde. Der Eintritt ist frei.

Am 15. September, 14 Uhr lädt das Literaturhaus zur Vernissage der zehntägigen Schau, mit einem Vortrag von Bettina Richter vom Museum für Gestaltung Zürich und einer Werkschau des Grafikers Erik Brechbühl. Für Kinder sind die Siebdruckwerkstatt und der Freileser-Kiosk vor Ort. Raclette und Toblerone-Eis vervollständigen das „Swiss Feeling“. Ab 18 Uhr macht man sich auf zum „Poster Walk“ über den Freiburger Kunstverein zum Pförtnerhaus. Auch ein „Wilder Freitag“ (für Kinder ab 5) mit Illustratorin Alice Kolb und Dichter Raphael Urweider widmet sich dem Ausstellungsthema. Am 27. September endet die Ausstellung mit der Versteigerung ausgestellter Plakate.

Bild: Patrik Schulz

erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 04.12.2000, Wirtschaft S. 31

Ernte mit dem Fesselballon

Der Pappelflaumpflücker von Bietigheim
Wie ein Forstwirt die Pappelfaser entdeckt und traumhafte Oberbetten damit füllt

Die in der Gegend wohnen, wissen Bescheid. Doch ab und zu kommt noch immer ein Wanderer arglos daher, auf einem bestimmten Waldweg westlich von Bietigheim bei Karlsruhe – und starrt mit einem Mal wie gebannt in die Höhe. Dort, über den Baumkronen, schwebt ein weißer, zierlicher Fesselballon, an dem, mitten zwischen den Wipfeln in beinahe 30 Metern Höhe ein Passagierkorb hängt. Darin bewegt sich eine Person, ein junger Mann, der nach den Ästen der Pappeln greift, um die grünen Früchte samt Blättern und Zweigen zu pflücken.
Ein Stahlseil führt vom Korbboden aus nach unten, zur Winde eines kleinen Raupenfahrzeugs. Hier wartet ein zweiter Mann auf seinen Einsatz. Rufe hallen von oben und von unten, dann setzt der Fahrer seine Miniraupe in Bewegung. Von unten gezogen löst sich der Korb samt Passagier vom Geäst, dreht sich um die eigene Achse, pendelt noch dazu wild hin und her, bis er endlich, vom Blättermeer der nächsten Pappel gebremst, zur Ruhe kommt. Und wieder greift sein Insasse nach Zweigen und Früchten.

Jens-Gerrit-Eisfeld, vierunddreißig Jahre alt und wohnhaft in Freiburg im Breisgau, erntet auf diese Weise die Früchte des weiblichen Pappelbaumes. Die grünen Kugeln, etwas größer als eine Erbse, enthalten feine, weiße Fasern, die, ähnlich wie die Schirmchen der „Pusteblume“, als Flugkörper für die Pappelsamen dienen. In Massen fliegen die hellen Flusen jeden Sommer von großen Pappelbeständen über das Land, nerven Gartenbesitzer, Putzfrauen, Landwirte. Doch für den Existenzgründer Eisfeld sind sie der Stoff, aus dem sein Traum ist.
Und das ist ganz wörtlich zu verstehen: Der Jungunternehmer hat den lästigen Pappelflaum als ideale Füllung für Oberbetten entdeckt. Seine vor knapp einem Jahr gegründete Firma Pap(p)illon Daunen GmbH macht vom Start weg von sich reden und ist beim Anflug auf den sonst so konservativen Bettenmarkt bemerkenswert weich gelandet. „Wir erleben eine unglaubliche Dynamik – diese Woche sind innerhalb von zwei Tagen über vierzig Händleranfragen gekommen“, schwärmt Forstwirt und Geschäftsführer Eisfeld.

Wie süß es sich in Pappeldaunen träumen läßt, entdeckte der Forstwirt streng genommen gar nicht selbst. Nur so zum Spaß holte er ein paar Gramm Pappelwolle mit Mistgabel und Besen von den Ästen und machte ein Kopfkissen daraus. Er schenkte es seiner Freundin, die schnell so überzeugt war, von den tiefschlaffördernden Eigenschaften des Kissens, dass sie nicht einmal mehr ohne verreisen wollte. Eisfeld begann, mit verschiedenen Erntemethoden zu experimentieren. Mit Stangenscheren, Leitern, Teleskop-Arbeitsbühne und Staubsaugern zog er durch Pappelwälder der Region. Gleichzeitig beauftrage er das renommierte Textilien-Forschungsinstitut Hohenstein mit der Untersuchung der Fasereigenschaften. Das Ergebnis überrascht: Pappelflaum übertrifft als Füllung für Oberbetten alle bisher bekannten Materialien. Die Fasern halten so warm wie Gänsedaunen, transportieren aber gleichzeitig die Feuchtigkeit fast so problemlos wie eine Wolldecke. Und auch die Schnelligkeit der Feuchtigkeitsaufnahme finden Experten sensationell: Sie übertrifft die von Gänsedaunen und Tierhaaren um etwa fünfzig Prozent.

Doch damit fing die Arbeit erst wirklich an. Die Pappelfrüchte müssen geschlossen geerntet, geöffnet und die empfindlichen Fasern von Samen und allen Schmutzstoffen getrennt werden. Eisfeld baute Wäschetrockner um, tüftelte, probierte. Mittlerweile hat er eine Maschine entwickelt, die mit den grünen Früchten samt kleinen Zweigen und Blättern gefüllt wird. Aus den dicken Rohren am anderen Ende quellen schneeweiße, flaumweiche Faserwolken – die fertige Bettenfüllung. Drei Angestellte wird er das ganze Jahr über brauchen, doch während der viermonatigen Erntesaison beschäftigt er mittlerweile bis zu zwanzig Mitarbeiter.
Seit vier Jahren bastelt Eisfeld an seiner luftigen Idee. Eine halbe Stelle am Waldbauinstitut der Universität Freiburg musste als dürftige Finanzierung für das aufwändige Projekt herhalten.

Der Durchbruch kam dieses Frühjahr: Den diesjährigen „Regio StartUp“-Preis für das beste Unternehmensgründungskonzept der Region Breisgau erhielt die Pap(p)illon Daunen GmbH. Eine weitere Auszeichnung des Landes Baden-Württemberg folgte. Die Mittelständische Beteiligungsgesellschaft Baden-Württemberg sicherte die Finanzierung über Beteiligungskapital in Höhe von einer Million DM. Noch wichtiger für ihn: Immer mehr Bettenhäuser wollen die Pappeldecken in ihr Sortiment aufnehmen. Nicht nur Einzelhändler, auch Einkaufsgemeinschaften und Versandhäuser sind interessiert. Eisfeld hat Grund zum Optimismus. Den noch bescheidenen Umsatz von knapp 200 000 DM meint er, im nächsten Jahr zumindest verachtfachen zu können. Zumal er seine Pappeldaunen nicht nur in Betten füllen möchte: Auch Daunenjacken und Schlafsäcke kommen in Frage.

Damit die Oberbetten waschbar sind und nicht zu teuer werden, wurden verschiedene Mischungsverhältnisse mit Baumwolle und Seide getestet. Eine Sommerdecke kostet etwa 360 DM. Auch für eine größere Produktionsmenge gehe der Rohstoff nicht aus. Die großen Pappelbestände seien durch die Ernte nicht gefährdet, versichert der Forstwirt. Neuerdings erntet er nur noch selten selbst. Er ist vollauf mit Werbung und Management seines Unternehmens beschäftigt. Doch darüber sei er nicht besonders unglücklich, bemerkt er beiläufig. Warum? „Ich kann ja nicht mal aus dem vierten Stock aus dem Fenster sehen.“ Eisfeld leidet unter Höhenangst.

erschienen in: „Die Zeit“, 24. Februar 2000, Zeit Chancen S.68

Meister der Illusion

Seit Beginn des Jahres gibt es eine offizielle Ausbildung für einen Beruf mit alter Tradition: Bühnenmaler und –plastiker/von Sylvia Schmieder

Auf sein Baby ist er noch immer stolz. „Das habe ich praktisch alleine gemacht“, sagt Peter Demarez und hebt einen staubigen Glasdeckel an. Der zerbrechliche Säugling darunter scheint jeden Moment mit dünner Stimme losweinen zu wollen, die Fäuste geballt. „PU-Schaum“, bemerkt sein Schöpfer traocken. Die Arme sind stellenweise abgewetzt, von den Streicheleinheiten staunender Besucher. Die synthetische Frühgeburt, vor Jahren hergestellt für die TV-Serie Kinderärztin Leah, ist jetzt eine der Hauptattraktionen der Abteilung „Bildhauerei, Thermo-Verformung und Film-Modellbau“ des Südwestrundfunks in Baden-Baden.

Hier und im Malsaal des Südwestrundfunks sollen demnächst die ersten „offiziellen“ Bühnenmaler und Bühnenplastiker ausgebildet werden. Denn das traditionsreiche Kunsthandwerk, dessen Anfänge so weit zurückliegen wie die des Schauspiels überhaupt, ist in Deutschland erst seit Beginn diesen Jahres anerkannter Ausbildungsberuf. Tragödie oder Komödie? Bisher arbeiteten ausgebildete Plastiker, Grafiker oder Bildhauer in der Branche, behalf man sich mit einer von Arbeitgebern und Gewerkschaften gemeinsam eingeführten Prüfung. Fachleute fanden schon lange, dass sich daran etwas ändern müsse. Die „Deutsche Theatertechnische Gesellschaft“ (DTHG), die „Europäische Medien- und Eventakademie“, der Südwestrundfunk und weitere Institutionen arbeiteten Ausbildungsinhalte aus.

Wie viele Menschen dieser Beruf fasziniert, zeigt sich bei jeder Besucherführung durch den SWR-Malsaal oder das Plastikeratelier. Nicht nur der Kunststoff-Säugling wird neugierig befingert. Auch die alte Backsteinmauer aus Sperrholz, Styropor und Farbe, die auch bei noch so nahem Hinsehen nichts über ihre wahre Beschaffenheit verrät. Täuschend echt wirken auch die Kirchturmglocke und der riesige Schiffshaken – sie bestehen nur aus Styropor plus Farbe.

„Vor allem, wenn wir für den Film arbeiten, müssen wir sehr realistische Oberflächen hinbekommen“, erläutert Demarez. Hierzu bearbeitet der Bühnenplastiker die verschiedenen Kunststoffe mit Raspeln, Messern, Bürsten und heißem Draht. Das „feine Schminken“ im Malsaal macht die Illusion perfekt. Häufig sollen die Werke vor allem leicht sein, dabei dennoch stabil und nicht zu teuer.

Mit Föhn und Bürste Styropor in eine Backsteinmauer zu verwandeln ist Schwerstarbeit. Zugleich muss der Bühnenplastiker dafür sorgen, dass seine Leistung keinem auffällt. Die Zuschauer jedenfalls dürfen später im Film die kunstvoll frisierte Mauer nicht bewusst wahrnehmen. Sonst wäre das Werk des Plastikers misslungen.

Drei Jahre werden sich die neuen Lehrlinge mit derlei Geduldsspielen plagen und nebenbei noch Theorie büffeln. Auf dem Stundenplan stehen unter anderem Materialkunde, Kunstgeschichte, Entwicklung von Stil und Mode. Doch welche Voraussetzungen müssen Bewerber erfüllen? Haupt- oder Realschulabschluss ist Bedingung. Daneben sei die künstlerische Begabung entscheidend, heißt es in der Berufsinformation der DTHG. Demarez konkretisiert für seinen Arbeitsbereich: „Sie sollten gut zeichnen, ein Auge für die dritte Dimension haben und kreativ gestalten können“.

Walter Mäcken, Mitglied der DTHG und einer der Hauptinitiatoren der neuen Ausbildung, rät allen Interessenten, sich am besten schon im Frühjahr direkt bei einem Wunschbetrieb zu bewerben. „Zum Beispiel beim örtlichen Stadttheater.“ Auf diese Weise hofft er, möglichst viele Betriebe zum Mitmachen zu motivieren. Dann könnte die Gewerbeschule Baden-Baden bereits im Spätjahr mit einer ersten Ausbildungsklasse starten.

Den Absolventen winken heute vielseitigere Arbeitsfelder, als die traditionsbewusste Berufsbezeichnung ahnen lässt. Nicht nur bei Theater, Oper, Musical, Film und Fernsehen werden Bühnenmaler und -plastiker beschäftigt, wichtige Arbeitgeber sind auch Erlebnisparks, Eventagenturen oder Malerbetriebe, die künstlerisch arbeiten. Auch für Messen, Ausstellungen oder Werbeproduktionen müssen Objekte gestaltet werden.

Wird es also genug zu tun geben für die zukünftigen Meister der Illusion? So genau wisse das niemand, sagt Demarez. Schließlich gebe es heute schon Computer, die auch schwierige Malereien und dreidimensionale Modelle ganz ohne Handarbeit produzieren könnten. Am eigenen Arbeitsplatz hat er erlebt, wie der technische Fortschritt die Auftragslage verändern kann, als mit einem Mal kaum noch Modelle fürs Schulfernsehen gebraucht wurden. In diesem Bereich wird inzwischen fast ausschließlich mit Computeranimationen gearbeitet.

Was hat sich sonst geändert, seit er vor 26 Jahren beim Südwestrundfunk anfing? Demarez muss nicht lange überlegen: „Der Termindruck. Die Belastung.“ Denn seit seine Abteilung auch für das Theater Baden-Baden produziert, gibt es mehr zu tun – aber keine zusätzlichen Stellen. Doch ein wenig wird sich das hoffentlich demnächst ändern. Dann wird ihm ja immerhin der eine oder andere Azubi kreativ zur Hand gehen.

Weitere Informationen
über die neue Ausbildung bei der Gewerbeschule Baden-Baden, Tel. 07221/931946 oder beim IHK Bildungszentrum Rastatt, Herr Carow, Tel. 07222/924525.

Erschienen über dpa Freiburg, 30.03.2001:

Kinder rappen Schulstoff

Freiburg (dpa) – Englische unregelmäßige Verben sind eine unangenehme Sache. Das finden vor allem die Schulkinder, die sie lernen sollen. Unterlegt man sie jedoch mit dem richtigen Beat, mixt sie mit schrägen Harmonien und frechen Texten, geschieht das Wunder. Plötzlich macht es den faulsten Lernmuffeln Spaß, die schwierigen Verbformen immer wieder aufzusagen. „Angefangen habe ich Ende 1998 mit meinen eigenen Kindern. Jetzt wollen schon viel zu viele mitmachen“, sagt Barbara Davids, 48jährige Mutter von drei Kindern in Freiburg im Breisgau. Weil ihre Tochter keine Lust auf den Schulstoff hatte, die Texte ihrer Lieblingsmusik aber spielend leicht auswendig lernte, kamen Mutter und Tochter auf die Idee, beides miteinander zu kombinieren.

Das Ergebnis kann sich hören lassen: vier CDs mit jazzigen Rap-Songs, von professionellen Musikern zusammen mit den Kindern entwickelt und aufgenommen. Nicht nur die englischen Verben für die Großen bis etwa sechzehn Jahre, auch das Einmaleins für Grundschul-Kids wird lustvoll variiert. Barbara Davids, die sich selbst für wenig musikalisch hält, sprach Musiker in der Freiburger Fußgängerzone an und bat sie um Unterstützung. Die verwitwete Mutter konnte ihnen keine Bezahlung bieten, doch die Idee war ungewöhnlich genug, auch Berufsmusiker in verschiedenen Formationen zu motivieren

Der Schul-Rap kam so gut an, dass Barbara Davids die CDs bald nicht mehr über das heimische Wohnzimmer verkaufen konnte. Der Freiburger Lambertus-Verlag übernahm den Vertrieb. Aus ganz Deutschland, sogar aus dem Ausland bekommt Familie Davids Briefe von begeisterten Kindern und Eltern. Auch Lehrer berichten von erfolgreichen „musikalischen Schulversuchen“. Das macht der engagierten 48jährigen Lust auf mehr: Gerade hat sie mit etwa zehn Kindern neue Songs in Arbeit. CD Nummer fünf und sechs, diesmal mit Texten zur deutschen Rechtschreibung, sollen noch dieses Frühjahr fertig sein.

Zu beziehen sind die CDs „Just Verbs“ 1 und 2 und „Das kleine Hör-mal-Einmaleins“ 1 und 2 über den Buchhandel oder das Internet: www.music-for-learners.de

erschienen in: Kultur, Medien und Technik, Januar 2001, S. 14

Philosophie für die Espressopause: Ein paar schnelle Bemerkungen zu Zeit und Arbeitszeit

Eine Runde orientalisch dösen

Kennen Sie das Volk der Kabyle? Sie sollten es kennen lernen. Für die Kabyle, eine algerische Volksgruppe, gilt jedes Zeigen von Eile als unanständig. Wer allzu geschäftig herumtut und macht, verstößt gegen ihre Moral. Manager und Aldi-Kassiererinnen würden bei ihnen vom Fleck weg verhaftet. Bei den Kapauku in Papua soll es gar verboten sein, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu arbeiten. Märchenhaft.

Märchenhaft? Wir Westeuropäer sind von der Ideologie der Arbeit als Wert an sich so sehr durchdrungen, dass wir es beim besten Willen nicht fertigbringen, beim Nichtstun nicht vom schlechten Gewissen geplagt zu werden. Freilich, früher, in der sogenannten „Vormoderne“, wurde auch bei uns in anderen Kategorien gedacht. Es hieß nicht „Fünfzehn Uhr dreißig Sitzungsbeginn“, sondern „Sonnenaufgang“ oder „Erntezeit“. Noch die ersten deutschen Bahnfahrpläne nahmen es mit der Viertelstunde nicht so genau – weil die Uhren noch keinen Minutenzeiger hatten. Aber das sogenannte „Rad der Geschichte“ kann schon deshalb nicht mehr zurückgedreht werden, weil es längst durch irgendeinen Turbochip ersetzt wurde. Durch welchen, durchblickt bei dem Mangel an Computerfachkräften übrigens auch niemand mehr.

Ist uns da irgendwie irgendwas verlorengegangen? Professor Karlheinz A. Geissler, renommierter Zeitforscher aus München, schlägt Alarm und fordert eine Art Naturschutz für die Langsamkeit: „Ich bin dafür, dass das orientalische Dösen geschützt wird. Eine Zeitform, die ausstirbt. Unser Wirtschaftssystem funktioniert nicht, wenn es nur auf Beschleunigung ausgerichtet ist. Man muss auch warten und wiederholen und an der richtigen Stelle Pause machen können.“

Doch wenn Sie jetzt aus tiefstem Herzen zustimmen und das „orientalische Dösen“ auf der Stelle vor dem Aussterben retten möchten, sollten Sie sich die ganze Sache gründlich überlegen. Das Handy wird Sie stören, meinen Sie nicht? Sie schalten es aus? Großartig, aber machen Sie sich nichts vor: Es stört auch dann noch, wenn es keinen Pieps tut. Der Chef, der Kunde, der Lebensgefährte könnten ja böse sein, dass Sie so lange und ohne triftigen Grund nicht erreichbar waren. Solche Gedanken werden Sie plagen, die bösen, beim Dösen. Da kommt keine orientalische Ruhe auf.

Und haben Sie darüber nachgedacht, in welchen Dosen Sie dösen wollen? Den ganzen Winter durch? Oder „Mach-mal-Pause“-mäßig ein Dreiviertelstündchen, während Jean Pütz Ihnen vorführt, wie man chinesische Meditationstees zubereitet? Oder reicht Ihnen die Zeit, in der Ihr Computer hochfährt? Na sehen Sie, Sie hatten noch gar keinen Plan. „Döshammel!“ ruft da auch schon Ihr Lieblingskollege, weil ihn etwas an Ihrem Gesichtsausdruck stört. Sie haben allzu versonnen aus dem Fenster gesonnen. Was lernen Sie daraus? Ihre Umgebung hat wenig Verständnis, für den vorbildlich natürlichen Zeitrhythmus der Kapauku aus Papua.

Trotzdem hat der Professor natürlich Recht. Je kleinlicher wir mit unserer Zeit umgehen, desto weniger nehmen wir sie wahr. Vom Wandel der Jahreszeiten, zum Beispiel, bekommen viele Menschen beinahe nichts mehr mit. Wer morgens im klimatisierten Auto ins klimatisierte Büro fährt, sich abends im Fitnesscenter entspannt und an den Wochenenden das Spassbad besucht, den kann das wirkliche Wetter nur noch momentweise erreichen.

Der klagende Ton, der dann bei Wettergesprächen angeschlagen wird („Die Hitze macht mich heute wieder fertig…“ oder alternativ: „Diese plötzlichen Kälteeinbrüche vertrage ich leider überhaupt nicht…“) ist also ein bloßes Ablenkungsmanöver: In Wirklichkeit macht uns nicht das Wetter, sondern seine Abwesenheit so krank. Statt uns beim lieben Gott zu beschweren, müssten wir uns auf seine kreativen Beiträge zu unserem Alltag einlassen. Zum Beispiel, indem wir `ne Runde orientalisch schlendern gehen, im Park, an der frischen Winterluft. Gute Idee? Packen Sie sich warm ein. Und vergessen Sie die Sitzung fünfzehn Uhr dreißig nicht.