Die Lesung in der Frankfurter Galerie UnikArt.

Was für eine schöne Veranstaltung gestern! Organisiert von der Autorin und Künstlerin Barbara Hennings. Mit Beiträgen von Sven Buchsteiner (Lyrik, „Nachschattenhall“), Mathias Scherer (Historischer Krimi, „Mohatsch“) und mir (Familienroman, „zusammen bleiben“). Musik von Benny Blue. Und ein wunderbar großer Büchertisch, organisiert von der Verlegerin Karina Lotz und dem unermüdlichen Markus Becker. Besondere Erlebnisse unter anderem: Endlich habe ich meine Lieblingsbuchbloggerin Britta Röder (#xlcoffeequeen) kennen gelernt. Überhaupt: ein schönes Beisammensein noch, mit den Kollegen, Karina, Markus und meinem Mann. Und noch etwas: Familie war anwesend! Drei Stück! Ich habe mich so gefreut …

Lesetipp: Poetische Appelle. Der Erzählband „Keiner mehr da“ von Ute Bales zeigt die besondere Stärke der Autorin, Schonungslosigkeit und Sensibilität zu vereinen.

Ute Bales, bekannt als Romanautorin, die mutig und vielschichtig von Vergangenheit wie Gegenwart erzählt, legt mit „Keiner mehr da“ einen neuen Band mit Erzählungen vor, die den Vergleich mit den Romanen nicht scheuen müssen. Ihr unbestechlicher Blick auf die Härte der Realität hat in der kurzen Form sogar etwas besonders Entwaffnendes. Wie alle Texte des Buches nimmt auch die erste Erzählung „Stress“ eine wahre Begebenheit zum Anlass. Ein Vater vergisst seine kleine Tochter für einige Stunden im Auto, was sie nicht überlebt. Dennoch kann man dem tragischen Protagonisten am Ende keinen Vorwurf machen, im Gegenteil. Der detailgenaue Blick auf die permanente Überforderung des modernen Menschen, bis zum Zerreißen angespannt zwischen privater und beruflicher Verantwortung, lässt uns begreifen, wie risikobehaftet der Alltag ganz normaler, gutwilliger Mitglieder unserer Gesellschaft geworden ist.

Auch die mehrteilige Erzählung „Amerika“ zeichnet in feinen Strichen einen eindrucksvollen Protagonisten, der dennoch scheitert. Der Vater eines auswandernden Bruderpaars im 19. Jahrhundert erträgt tapfer Einsamkeit und Armut und bringt es schließlich sogar fertig, eine eigentlich unmögliche Reise zu realisieren, um den beiden das Erbe zu bringen – das ihm unterwegs gestohlen wird. Spätestens in „Alles im Kopf“ wird es dann wunderbar poetisch. Es geht um die musikalische Fantasie und synästhetische Wahrnehmung eines Jungen, der vor dem zweiten Weltkrieg auf dem Land aufwächst und mit seiner Begabung nicht ernst genommen wird. Als seine Musik im Radio gesendet wird, sind die Reaktionen der Dorfbewohner ein schönes Beispiel für den sanften, immer auch einfühlsamen Humor der Autorin. Überhaupt sind unbarmherzige Darstellungen von Ungerechtigkeit und Grausamkeit und innig-lyrische Naturbeschreibungen bei Bales kein sich ausschließender Gegensatz. In der Erzählung „Eine Respektlosigkeit“ zum Beispiel schwebt und schwingt die Eifler Heimat immer mit, was das furchtbare Ende der beiden Mönche umso heftiger wirken lässt.

LeserInnen ihrer Romane werden auch Themen und Figuren aus ihnen wiedererkennen. Dennoch sind die Erzählungen viel mehr als Vorstudien oder „Beifang“, dafür haben sie zu viel Eigenleben. Die ganz großen Fragen werden gestellt: nach Tod und Vergänglichkeit zum Beispiel. Im titelgebenden Text „Keiner mehr da“ weiß der Vater längst Bescheid, während die Tochter noch versucht, die schmerzhafte Wahrheit zu verdrängen:
Irgendwann kommt ihr heim und dann ist keiner mehr da, sagte mein Vater. Ich empfand fast so etwas wie Mitleid mit ihm, dem die Zeit gestundet schien, anders als mir, die ich das Leben noch vor mir hatte. Seine Gedanken berührten mich nicht. Sein Irgendwann lag in einem fernen Dunst, weit hinter dem Mond und allen Planeten.

Wie in einigen ihrer Romane geht es auch in diesem Band viel um die Eifel, ihre Natur, ihre Menschen. Gerade im letzten Drittel betrauern einige Texte die Zerstörung der Natur in ihrem ganzen Schrecken, klagen sie an. Für mich sind solche „poetischen Appelle“ eine besondere Stärke der Autorin Ute Bales, weil es ihr dank ihrer Schreibkunst gelingt, Schonungslosigkeit und Sensibilität zu vereinen.

Ute Bales, Keiner mehr da. Rhein-Mosel-Verlag 2024 255 Seiten, ISBN 978-3-89801-477-9, 13,50 EUR

Gestern beim Lesemarathon im Freiburger Literaturhaus.

Eine besondere Vielfalt von Texten. Ein interessiertes Publikum. Durch die Aufteilung in Gruppen ab 18 Uhr kam eine intime, persönliche Atmosphäre auf. Auch meine Lesung(en) – dreimal denselben Text für verschiedene Gruppen mit jeweils anderem Moderator – habe ich sehr genossen. Spannend, wie verschieden es sich anfühlte. Danke an Eberhard Bittcher, Werner Baur, Antigone Kiefner, Martin Bruch und das ganze Literaturhaus-Team!

Ein Sommerfest mit großem Lesungs- und Buchangebot – und „Literaturpreis federleicht“.

10. September 2024 · by Sylvia Schmieder ·

Bilder: Patrik Schulz

Ein Sommerfest, das schon der Location wegen Besonderes bot: Die Vermieterin der Verlegerin stellte Räumlichkeiten und ihren hübschen Innenhof mit wunderbarem Garten in Fuldatal zur Verfügung. Das Lesungsprogramm ließ die große Palette dieses Indie-Verlags erahnen, mit dem Verlegerin Karina Lotz beweist, was auch bei geringen Mitteln und ohne Subventionen möglich ist: Von Kinderbüchern über Lyrik, Krimis, Fantasy bis hin zu literarischer Prosa hat der vor neun Jahren gegründete Verlag zahlreiche sorgfältig gestaltete Bücher veröffentlicht. Nicht zuletzt erscheint einmal jährlich das „Literarische Journal“, eher ein Buch als ein Literarisches Magazin, das eine große Vielfalt auch unbekannter Stimmen und Schreibarten zur Veröffentlichung bringt.

Die edition federleicht ist ein Ein-Frau-Verlag. Karina Lotz ist Gründerin, Zentrum und Kümmerin. Sie veröffentlicht nicht nur, sondern macht sich zu jedem Projekt indiviuelle Gedanken, beispielsweise im Bereich der Gestaltung. Auch was die PR betrifft, leistet sie Erstaunliches und setzt ihre kreativen Gedanken mutig um – unterstützt von einem stetig wachsenden Freundeskreis und Honorarkräften.

In der Laudatio zum diesjährigen „Literaturpreis federleicht“ heißt es:
Sylvia Schmieder versteht es, mit ihrer bilderreichen Sprache als feinsinnige Beobachterin Menschen und Situationen herauszuarbeiten wie lebendiges Gewebe aus Holz oder Beton. (…) Die Lesenden ihrer Texte werden hineingezogen in eine packende Handlung hart an der Wirklichkeit entlang. Aber ihr Blick ist bei allem Realismus immer voller Poesie. Indem die Autorin Szenen aus dem Alltag herausgreift, kleine Momente und Episoden, die das Große im Kleinen zeigen, versinnlicht sie unser Verständnis von Realität. Denn die besteht eben nicht nur aus Tatsachen, sondern vor allem aus Erscheinungen dahinter, darunter und dazwischen.

Wenn ich mich schriftlich über Besprechungen zu „zusammen bleiben“ freue, muss ich in letzter Zeit glücklicherweise aufpassen, mich nicht zu wiederholen. Diesmal bin ich nochmal anders geflasht. Buchempfehlung „zusammen bleiben“ bei https://narrenfreiheit.blog/

Literaturhaus mit Musik, Apéro, „zusammen bleiben“ und noch viel mehr.

Kurzlesungen und Musik an der Langen Tafel

17 Uhr: Lesung zu Marie T. Martin und Schreibcouch-Präsentation

18:15 Uhr: Gespräche mit Maria Schüly („Julius Bissier und Richard Bampi: Das Freiburger Keramikbild“) und Bettina Schulte (Hrsg. von „Heute ist ein guter Tag, das Patriarchat abzuschaffen“)

ab 19 Uhr: Kurzlesungen mit Tobias Scheffel (als Übersetzer von Teodor Cerićs „Gärten in Zeiten des Krieges“), Werner Weimar-Mazur („ich grabe nach den bleistiften homers“), Sylvia Schmieder („zusammen bleiben“), Ulrich Land („Die Leiden der jungen Weiber“), Susanne Eules („miami t:ex[i]ting“), José F. A. Oliver („In jeden Fluss mündet ein Meer“)

Zeichnung: © Andreas Töpfer

Mitveranstalter: Buchhandlung jos fritz
Unterstützt vom Förderkreis Literaturhaus Freiburg e.V.

Datum: 19.9.2024, 17–22 Uhr
Ort: Literaturhaus Freiburg, Bertoldstraße 17
Eintritt: 11/7 Euro

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Noch eine großartige Rezension von „zusammen bleiben“, diesmal von der Buchhändlerin Ingrid Menzel. Sie schreibt auf LovelyBooks:

Eine Familie in den Wirren des Krieges und im Ringen um ihren Zusammenhalt, auch im Leben danach…

Kurzmeinung: Ein tiefgründiges und lebendiges Portrait einer Familie während des 2. Weltkrieges und der Nachkriegszeit

Sylvia Schmieder, Jahrgang 1966, studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie in Freiburg/Breisgau, wo sie auch heute lebt. Es ist ihr zweiter Roman, den sie uns hier vorlegt, ein Roman, den man nicht so einfach „verschlingt“, sondern der sich eher als Reise durch ein wunderbar literarisch-poetisches Kunstwerk versteht.

Wir werden durch zwei Zeitebenen geführt, in zwei Erzählsträngen, die miteinander verbunden sind Dabei geht es um zwei Frauenfiguren, Mari und Claudia, jede in ihrer eigenen Welt, mit ihren eigenen Bezügen zur Realität, jede zu ihrer Zeit.. Man spürt den Sog, dass sie was miteinander zu tun haben, ahnt es vielleicht auch schon, in welcher Weise, und lässt sich schließlich darauf ein, des Rätsel lösen zu wollen…

Claudia erlebt die 70er Jahre erst als kleines Mädchen, dann als ziemlich unglücklicher Teenager, der zu Hause bei den Eltern nicht gehört und gesehen wird, und versucht, durch Tagebuchschreiben mit sich selbst klarzukommen. Ihre beste Freundin stirbt in einer kritischen Phase ihres Lebens, wodurch sie einen festen Halt in ihrem Leben verliert. Ein Sehnsuchtsort ist für sie das Haus ihrer Großeltern, wo die Großmutter eine Schlüsselrolle spielt. Oft kommen dort Familie und Verwandte zusammen, die Claudia zwar nicht alle geheuer sind, aber die ihr auch ein Stück Sicherheit geben.

Mit Mari, der Hauptprotagonistin des Romans, werden wir in die vierziger Jahre zurückversetzt. Sie stammt aus dem Dreiländereck Österreich-Ungarn-Slowakei und ist ihrem Mann Ludwig 1939 nach Deutschland gefolgt, in Gedanken aber in der Heimat geblieben. Ludwig ist sehr zielstrebig und hat in Frankfurt eine Hausschuhfabrik aufgebaut. Der Krieg rückt näher, die NS-Ideologie überrennt das Land, und die Fabrik steht fast voe dem Aus, weil dort ja kein Kriegsmaterial hergestellt wird. So meldet sich Ludwig als Freiwilliger bei der Waffen-SS , fest davon überzeugt, mit bestem Wissen und Gewissen alles für Deutschland getan zu haben, was in seiner Macht steht. Schon nach kurzer Zeit wird er verpflichtet und muss an die verschiedensten Schauplätze einrücken, erst als Kurier und Berichterstatter, später wohl auch an der Front. Mari steht dem Ganzen entsetzt gegenüber und bleibt mit den Kindern allein. Ihre Erfahrungen – allein mit dem Halbwissen über den Krieg mit all seinen Begleiterscheinungen – machen sie fassungslos. Die Lage spitzt sich zu, die Schrecken werden größer. Aufgrund einer unliebsamen Entdeckung fühlt Mari sich auch nicht mehr sicher in ihrer Ehe, eher bodenlos und alleingelassen, und denkt daran, ihren Mann zu verlassen. Zuerst die Flucht in den Wald, zwecks innerer Suche nach sich selbst….Dann plant sie die Flucht nach vorne: – die Rückkehr in ihre Heimat Slowakei. Unter größten Hindernissen flieht sie mit ihren Kindern zu ihre Verwandten. Einen Ruhepol findet sie dort nicht, denn der Krieg wütet auch dort inzwischen mit aller Macht , auch auf der Straße: deutsche Wehrmacht gegen deutschfeindliche Kräfte. Also geht die Flucht mit den Kindern wieder zurück nach Frankfurt. Mari weiß, dass sie nur dort mit Ludwig und der Familie eine Zukunft hat, eine Entscheidung, die wohl einfach passiert ist unter dem Druck der Ereignisse… . In Frankfurt erwartet sie Bombenhagel, das Haus ist zwar halb zerstört, bietet aber trotzdem noch Wohnraum, bis Fremde und Alliierte durch die Straßen und Gärten ziehen und alles für sich beschlagnahmen und plündern, was sie ergattern können. Der Krieg scheint bald zu Ende zu gehen, es sind die letzten wütenden Zuckungen…

Mari kämpft für ihr Haus, den Wiederaufbau ihres Lebensraumes, für die Rückkehr von Ludwig und für die Befreiung ihres Bruders aus dem Lager in Mauthausen… Sie ist diejenige, die alles zusammenhält und ihrer Familie generationsübergreifend den Raum gibt, sich wieder zu begegnen und einen Neuanfang zu wagen. Nicht einfach, wo jeder mit seinen Traumata zu kämpfen hat, unverarbeitete Traumata als eine Dimension, die es den nachfolgenden Generationen so schwer macht, das Thema Krieg zu verarbeiten, zu verstehen und Schlüsse für das eigene Leben zu ziehen …. wo das Schweigen den größten Raum einnimmt und Frust und Zukunftsängste in heftige Wutausbrüche ausarten. Auch Claudia kommt wieder mit ins Spiel, wie sie Zuflucht nimmt bei der Großmutter Mari. Sie erlebt die Erwachsenen in ihren Emotionen, weiß letztendlich nicht, was diese antreibt zu ihren Ausbrüchen und Verhaltensweisen und versucht sich in einer Welt dazwischen auszuleben.

Das letzte Kapitel erscheint mir wie eine Metapher für die Existenzbedingungen der Menschheit. Benannte Perlen stehen hier möglicherweise für die Ressourcen der Länder , mit denen man sorgfältig und friedfertig umgehen muss. Auch wenn Feindseligkeiten zwischen den Menschen entstehen… „immer ein bisschen hinter die Tür gucken, wo das Leben verborgen ist….“ „Man soll eben niemals den Mut verlieren, immer findet man etwas Schönes und Gutes, Du musst es nur suchen und herausbuddeln, wo es sich verborgen hat“, so die Autorin.

Sylvia Schmieder gelingt es in diesem Roman, sensibel mit den Charakteren umzugehen, ohne diese zu bewerten bzw. in Gut und Böse aufzuteilen. Sie ist die Beobachtende, humanistisch und empathisch, wie sie sich in die Menschen hineinversetzt und versucht, sie zu verstehen, egal, in welche Richtung sie gehen und von welchen Emotionen sie getrieben werden. Sie schreibt in wunderbar farbigen Bildern: – Menschen und Situationen werden transparent , dort, wo sich Abgründe auftun und jeder um sein physisches, psychisches und soziales Überleben kämpfen muss. Ihre tiefgründige , und trotzdem so anschauliche Sprache erinnert mich an die jüdische Politologin und Philosophin Hannah Arendt (1906 bis 1975), die in ihrem autobiographischen Werk „Ich will verstehen“ etwas zum Ausdruck gebracht hat., woran sich auch der rote Faden dieses Romans bewegt: – nämlich das Verstehen im Sinne einer Suche zu begreifen, mit Beobachtungsgabe und Achtsamkeit die Hintergründe zu durchschauen und zu analysieren, die Dinge von allen Seiten ins Visier zu nehmen und sie so zu sehen, wie sie sind, ohne ihnen zu viel Bewertung beizumessen… Und ich glaube, eine solche Herangehensweise ist der Autorin tatsächlich gelungen und macht den Roman zu einem spannenden , vielschichtigen Zeitdokument. … gerade auch für die heutige Zeit, wo die Kriegsbereitschaft wieder so in den Vordergrund rückt.

In diesem Sinne ist der Roman absolut empfehlenswert!

Susanne Konrad auf buecherfrauen.de: “Zusammen bleiben” ist kein Buch, das sich rasch verkonsumieren lässt, dazu ist es viel zu dicht geschrieben. Man muss sich einlassen auf Sylvia Schmieders Erzählwelt, dann wird man mit emotionaler Spannung und auch mit großer Anschaulichkeit belohnt, die den zeitgeschichtlichen Wissensdurst anregt und auf viele Fragen nach dem Warum Antworten findet.

Vollständige Leseempfehlung: https://www.buecherfrauen.de/buchempfehlungen/artikel/sylvia-schmieder-zusammen-bleiben-roman

Lesetipp: Unsterblich, wer liebt. Berndt Schulz feiert in „Romeo und Julia. Reloaded“ die Liebe, ganz im Geiste Shakespeares und doch modern.  

Shakespeares „Romeo und Julia“ gilt noch immer als das Liebesdrama überhaupt. Eine Mehrzahl der Leser liest es heute vielleicht als seltsam faszinierendes, aber auch befremdliches Stück aus einer lange vergangenen Zeit, mit allzu leidenschaftlich und absolut fühlenden Charakteren, wie sie schon lange nicht mehr zeitgemäß sind. Das in die heutige Zeit versetzt, neu „hochgeladen“ wie eine Internetseite – kann das gutgehen?

Der Erzähler des Romans „Romeo und Julia. Reloaded“ von Berndt Schulz, im Mai in der edition federleicht erschienen, überlegt nicht lange und legt einfach los. Diesem Text merkt man von den ersten bis zu den letzten Absätzen an, dass der Autor in Sachen Spannung mit allen Wassern gewaschen ist. Schon die Eröffnung ist grandios. Der Romeo des 21. Jahrhunderts rast mit seinem Auto sieben Stockwerke eines Frankfurter Parkturms hinauf, um sich aus enttäuschter Liebe hinunterzustürzen. Der mal atemlose, mal tastende Sprachrhythmus zieht den Leser in seinen Bann, bevor er begreift, worum es eigentlich geht, und quer durch alle Kapitel bis zum Schluss wird diese Spannung so geschickt am Leben erhalten, dass dem eine breite Zielgruppe folgen wird, ob krimibegeistert, lovestoryverliebt, historisch interessiert oder nichts von alledem.

Neben die Story aus der heutigen Zeit baut Schulz eine zweite, erzählerisch gewagtere Erzählebene: die des Paares im Jahr 1594, also die Shakespeare-Geschichte. Hier lässt er sich ganz bewusst auf das Abenteuer ein, heutigen Lesern Teile der alten Sprach- und Denkwelt zuzumuten und übernimmt viele Bilder und Formulierungen des Originals. Auch wenn, je nach Hintergrund und Interesse, manche Leser überfordert sein werden, hat mir dieser Mut gefallen. Warum am Anfang des 4. Tages, in der Zeitebene des 16. Jahrhunderts, Shakespeare den modernen Titel nennt – Romeo und Julia. Reloaded – hat sich mir nicht erschlossen. Ansonsten werden die Erzählstränge aber immer wieder locker und einfach schön miteinander verflochten, zum Beispiel, wenn das Resümee der Geschichte erst vom Romeo des Jahres 2014, dann von Shakespeare auf dem Dichterfest in Mantua formuliert wird:

„Nein. Liebe vergeht nicht. Und auch wir Menschen vergehen nicht. Wir bleiben, und wenn auch nur in der Erinnerung der Überlebenden und Hinterbliebenen. In ihrer Erinnerung sind wir unsterblich – weil wir geliebt haben.“

So gelingt es dem neuen Roman von Berndt Schulz tatsächlich, eine Liebe im Jahr 2014 im Geiste Shakespeares zu erzählen: kompromisslos, schwärmerisch und unterhaltsam, mit glaubwürdigen, modernen Charakteren. Die beiläufig-witzigen Dialoge tragen dazu ebenso bei wie eine differenzierte Menschensicht und die fein gezeichnete Psychologie der Hauptfiguren. Ein doppelt spannender Roman also, bis zum Ende, auch wenn das für meinen Geschmack etwas zu dick ausgefallen ist. Andererseits: Vielleicht muss das – für diesen Roman – genau so sein, weil auch hier keine Kompromisse gemacht werden dürfen?

Berndt Schulz, Romeo und Julia. Reloaded. edition federleicht, Fuldatal, 24 €.

„Ungeheure Fliehkräfte. Doch die Familie bleibt zusammen.“ So fasst Berndt Schulz meinen neuen Roman in seiner Rezension zusammen.

Fortwollen und Bleibenmüssen
Sylvia Schmieders bewegender Roman „zusammen bleiben“

Schon der letzte Roman von Sylvia Schmieder „Saling aus dem Wald“ hat uns bewegt und angerührt. Das Buch nahm uns mit, dorthin, wo die Waldwesen, Verwandlungskünstler und Neugiertiere wohnen, es führte uns hinein in das Dunkel jenseits der Lichtungen. In ähnlichen Tiefen, nur hier die des menschlichen Zusammenlebens in gesellschaftlich katastrophalen Zeiten, ist das neue Werk der Autorin angesiedelt. „zusammen bleiben“ heißt das programmatische Porträt einer Zeit und einiger besonderer Menschen.

Mari, aufgewachsen im Dreiländereck Ungarn-Slowakei-Österreich, ist ihrem Mann Ludwig nach Deutschland gefolgt. Die Familie gerät in den Sog der NS-Ideologie und ihres zunehmenden Alltagsterrors, sie kämpft um ihr physisches und seelisches Überleben. Dann wird Maris Bruder als kritischer Journalist von der Gestapo abgeholt und der Horror jener Zeit, hier Frankfurt am Main im Jahr 1939, rückt immer näher.

Die Autorin Sylvia Schmieder, geboren in Frankfurt, lebend in Freiburg, versteht es mit ihrer bilderreichen Sprache als feinsinnige Beobachterin Menschen und Situationen bildnerisch herauszuarbeiten wie lebendiges Gewebe aus Holz oder Beton. Personen und Umstände bekommen Plastizität. Die Lesenden werden hineingezogen in eine packende Handlung hart an der Wirklichkeit entlang. Indem die Autorin Szenen aus dem Alltag herausgreift, kleine Momente und Episoden, die das Große im Kleinen zeigen, lotet sie die Untiefen der Lebensumstände aus, als Risse, die sich durch die Familie ziehen. Die 29 Kapitel plus ein märchenhaftes Schlusskapitel fügen sich am Ende zusammen und zeigen, wie fest, aber auch wie gefährdet, ja, wie zerrissen Familienbande unter dem Außendruck der Gegenwart werden können. Desto dramatischer, wenn die Familie in brutaler Zeit noch das einzig Tröstliche und Zuverlässige ist.

Dabei verfügt Sylvia Schmieder trotz allem Realismus des Blickes über eine Sprachkraft, die voller Poesie steckt. Es ist aber keine selbstgefällige Poesie, die nur auf sich selbst deutet, sondern sie gewinnt dadurch große erzählerische Kraft, die im Dienst tieferer Erkenntnisse der Umstände steht. Und sie tröstet gerade da, wo sie aus dem Schrecken des konkreten Geschehens kommt und diesen Schrecken beleuchtet: „So, aber jetzt komm, setze dich an meinen ausgebreiteten Mantel, wir fliegen ganz weit und schnell nach Amerika, wo gerade ein Mondschiff steht …“

Der Roman holt zunächst einmal aus. Er beginnt im Jahr 1972 in Großmutters Rosenfeld, wo das Mädchen Claudia mit ihren Eltern Mari und Ludwig und der restlichen Familie eines Tages ankommt und ganz von selbst in die ausgebreiteten Arme der Großmutter hineinsaust, wie ein Pfennig in einen Magneten – dieses Bild schenkt uns die Autorin. So schön kann man von Nähe erzählen: am Anfang überwiegend von der kleinen Claudia und ihrer liebenswürdigen Großmutter.

Dann geht es zurück in der Zeit. Kein Wunder, dass die eigentliche Protagonistin Mari sich von dort, wo sie gelandet ist, nämlich Frankfurt am Main im Jahr 1939, gleich wieder „wegdenkt“. Und das ist untertrieben, die Sehnsucht nach ihrer Heimat „hebt sie fast in die Luft“. Alles zieht sie nach Hause, Richtung Wien, Pozsony, Nagyszombat, doch sie ist Verpflichtungen eingegangen, ihre Familie zählt auf sie. Also bleibt sie.

Die erzählte Zeit zerrt an den Menschen, nimmt keine Rücksicht auf ausgewogene Lebensplanung. Es geht wieder vorwärts, der Roman dehnt sich nach allen Seiten aus. Die Zeit springt nicht nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach den Plänen der Macht. Die Familie spricht nur ganz vorsichtig von „unserem neuen Zuhause“ – man weiß ja nie. Wir sind im Jahr 1954, dann 1970 oder wieder im Jahr 1972 angelangt und dann geht es eigentlich nur ein paar Jahre zurück, aber ganz weit zurück, wenn man die moralischen Grundsätze und Sicherheiten zwischen Menschen meint. Wir kommen wieder im Jahr 1939 an. Ein Jahr der Schrecken, von deren Ende noch niemand weiß.

Die Zerrissenheit, das Hin und Her zwischen Fortwollen und Bleibenmüssen, prägt als Grundmuster die folgende Handlung. Züge kommen an und fahren ab. Die Wehrmacht rückt im Osten vor, gerade sind die Truppen in die Slowakei einmarschiert, aber das ist nur eine Durchgangsstation. Mari würde am liebsten – wie einst Saling – in den Wald ziehen, in die Hohe Tatra beispielsweise. In dieser schrecklichen Zeit irgendwohin, ganz weit weg. „Man sollte gar nicht mehr unter Menschen leben“, denkt sie. Aber Menschen sind überall.

In kleinen, konkreten Szenen, genau gesehen und beobachtet, sprachlich kongenial wiedergegeben, erzählt die Autorin von Innenräumen und Außenstationen, von Menschen und den Begegnungen mit ihnen. Von der Familie und ihrer Schwerkraft. Das alles hält die Protagonistin am Ort fest. Doch die Sehnsucht nach „dem Anderen“ wird immer größer.

Und als die Familie dann wieder weiter muss, sind die Kinder erwachsener und vernünftiger als die Erwachsenen, irgendwie realitätsnäher. Die Großen seufzen unentwegt. Wissen sie nicht, dass jeder Seufzer einen Tropfen Blut aus dem Herzen entzieht? „Ich glaube, wir müssen jetzt los“, sagt einer, und das ist für den Moment gedacht, aber es beschreibt auch, im Subtext, die politische Lage. Denn die Familie kann in Nazi-Deutschland nicht bleiben, sie ist jetzt, wo überall inhaftiert und hingerichtet wird, gefährdet. Und wer sitzt nicht alles in „diesen Lagern“. Man spricht flüsternd davon, vorsichtig, will bestimmte Zustände gar nicht genau benennen. Maris Familie möchte sich mit sich selbst beschäftigen, aber was um sie herum geschieht, reißt sie auseinander. Der Bruder sitzt ja schon seit einiger Zeit „im Lager“. Hat jemand Nachricht von ihm? Nein.
Wir sind noch immer im Jahr 1939. Es wird höchste Zeit für die Ausreise. Noch schnell ein Stück unwiderstehlicher Apfelkuchen, dann geht es los. Der Zug bebt schon vor Bereitschaft, diesen Ort endgültig zu verlassen. Aber wo ankommen?
Der Roman assoziiert in diesen Kapiteln vor und zurück. Damit reflektiert die Autorin neben der erzählten Unruhe jener Jahre die Tatsache, dass jedes Individuum nie nur an einem einzigen Ort ist. Erinnerungen tauchen auf, Ängste auf das Morgen bezogen lassen die Gedanken fliegen. So schafft Sylvia Schmieder trotz der konkreten und auch spannenden Handlung ein fragiles Gewebe von Befindlichkeiten und Zuständen in einer höchst unsicheren Zeit. Eben tritt Mari noch ihrer Mutti gegenüber und empfängt ein Geburtstagsgeschenk, schon ertönen draußen laute Marschtritte – die Zeit ist aus ihren erträglichen und gewohnten Fugen. Die Autorin erzählt fast schmerzhaft genau davon. Wie ein Kind angeschaut wird und angelächelt wird von den Erwachsenen und es dadurch in „eine neue Höhe“ gehoben wird, ohne dies verstehen zu können. Und wie es dann auf die Straße tritt und stärker geworden ist, als es zuvor war. Wie fast gleichzeitig die Bomben fallen und das Kriegsgrauen tobt – und wie glücklich jemand ist, dass trotz allem ein Fenster heil geblieben ist, und nur einen einzigen Sprung hat.
In solchen Sequenzen zeigt sich Sylvia Schmieder als erzählende Autorin auf eine Art und Weise auktorial, also in der Perspektive „allwissend“, dass man als Lesender Bewunderung empfindet – für diese Sensibilität, für den nicht nur literaturtheoretisch sauberen, sondern vor allem menschenfreundlichen Fokus ihrer Perspektive. Erzählperspektive als Anteilnahme.

Fragile, gefährdete Welt, eine Zeit zum Verzweifeln: Als die Familie, von der erzählt wird, dann tatsächlich wieder in der alten Heimat ankommt, muss man gleich wieder in den Schutzraum unter der Erde. Mari verliert allmählich ihren Lebensmut, Ludwig will die kaputten Fenster abdichten, muss aber im Morgengrauen schon wieder an die Front, nach Italien. Noch ein Stück Brot mit Streichwurst – dann geht es los. Und in diesem ständigen Hin und Her geht schließlich die Heimat unter. Die Protagonisten sind erschöpft. Und desillusioniert. „Wenn etwas ist, buddelt ihr uns einfach aus“, sagt einer. So wenig Lebensmut steckt inzwischen in fast allen.

Und nach alldem? Beginnt nun eine Zeit wirklichen Friedens und der seelischen und physischen Erholung?
Nach dem Krieg finden sich die Überlebenden hier und dort und schließlich in Frankfurt am Main zusammen. Viel geschieht noch, es geht aufwärts und man versucht, „den verdammten Krieg“ zu vergessen. Aber da sind ja immer wieder die erinnerten Grauen der Konzentrationslager. Man versucht dennoch das zusammenzukehren, das übrigblieb und ruft auch die Urahnen dazu. Vielleicht sind die realen Wünsche aber nur in der Phantasie möglich. Und so erzählt im Sommer des Jahres 1970 eine Großmutter ihrer Enkelin ein Zaubermärchen, in dem die gute Fee Fantasia auftritt. „Es war einmal ein kleines Mädchen, … das wollte so gerne hinter die Türe gucken, wo das Leben verborgen ist …“ Und dazu muss es eine Reise antreten, die bis zum Mond führt, dorthin, wo tatsächlich Frieden herrscht. Vielleicht deshalb, weil aus den Mündern der Menschen keine Worte, sondern rote Perlen kommen.

Das Leben geht jedenfalls irgendwie weiter, es war letztlich stärker als der Tod. Die Familie kämpft zwar mit ihren Erinnerungen, versucht es aber mit einem neuen Heimatgefühl. Aber was ist in dieser Zeit, nach diesen Erfahrungen schon Heimat? Kein Ort. Nirgends.

Ungeheure Fliehkräfte. Doch die Familie bleibt zusammen.

Berndt Schulz

https://de.wikipedia.org/wiki/Berndt_Schulz