Lesetipp: Poetische Appelle. Der Erzählband „Keiner mehr da“ von Ute Bales zeigt die besondere Stärke der Autorin, Schonungslosigkeit und Sensibilität zu vereinen.

Ute Bales, bekannt als Romanautorin, die mutig und vielschichtig von Vergangenheit wie Gegenwart erzählt, legt mit „Keiner mehr da“ einen neuen Band mit Erzählungen vor, die den Vergleich mit den Romanen nicht scheuen müssen. Ihr unbestechlicher Blick auf die Härte der Realität hat in der kurzen Form sogar etwas besonders Entwaffnendes. Wie alle Texte des Buches nimmt auch die erste Erzählung „Stress“ eine wahre Begebenheit zum Anlass. Ein Vater vergisst seine kleine Tochter für einige Stunden im Auto, was sie nicht überlebt. Dennoch kann man dem tragischen Protagonisten am Ende keinen Vorwurf machen, im Gegenteil. Der detailgenaue Blick auf die permanente Überforderung des modernen Menschen, bis zum Zerreißen angespannt zwischen privater und beruflicher Verantwortung, lässt uns begreifen, wie risikobehaftet der Alltag ganz normaler, gutwilliger Mitglieder unserer Gesellschaft geworden ist.

Auch die mehrteilige Erzählung „Amerika“ zeichnet in feinen Strichen einen eindrucksvollen Protagonisten, der dennoch scheitert. Der Vater eines auswandernden Bruderpaars im 19. Jahrhundert erträgt tapfer Einsamkeit und Armut und bringt es schließlich sogar fertig, eine eigentlich unmögliche Reise zu realisieren, um den beiden das Erbe zu bringen – das ihm unterwegs gestohlen wird. Spätestens in „Alles im Kopf“ wird es dann wunderbar poetisch. Es geht um die musikalische Fantasie und synästhetische Wahrnehmung eines Jungen, der vor dem zweiten Weltkrieg auf dem Land aufwächst und mit seiner Begabung nicht ernst genommen wird. Als seine Musik im Radio gesendet wird, sind die Reaktionen der Dorfbewohner ein schönes Beispiel für den sanften, immer auch einfühlsamen Humor der Autorin. Überhaupt sind unbarmherzige Darstellungen von Ungerechtigkeit und Grausamkeit und innig-lyrische Naturbeschreibungen bei Bales kein sich ausschließender Gegensatz. In der Erzählung „Eine Respektlosigkeit“ zum Beispiel schwebt und schwingt die Eifler Heimat immer mit, was das furchtbare Ende der beiden Mönche umso heftiger wirken lässt.

LeserInnen ihrer Romane werden auch Themen und Figuren aus ihnen wiedererkennen. Dennoch sind die Erzählungen viel mehr als Vorstudien oder „Beifang“, dafür haben sie zu viel Eigenleben. Die ganz großen Fragen werden gestellt: nach Tod und Vergänglichkeit zum Beispiel. Im titelgebenden Text „Keiner mehr da“ weiß der Vater längst Bescheid, während die Tochter noch versucht, die schmerzhafte Wahrheit zu verdrängen:
Irgendwann kommt ihr heim und dann ist keiner mehr da, sagte mein Vater. Ich empfand fast so etwas wie Mitleid mit ihm, dem die Zeit gestundet schien, anders als mir, die ich das Leben noch vor mir hatte. Seine Gedanken berührten mich nicht. Sein Irgendwann lag in einem fernen Dunst, weit hinter dem Mond und allen Planeten.

Wie in einigen ihrer Romane geht es auch in diesem Band viel um die Eifel, ihre Natur, ihre Menschen. Gerade im letzten Drittel betrauern einige Texte die Zerstörung der Natur in ihrem ganzen Schrecken, klagen sie an. Für mich sind solche „poetischen Appelle“ eine besondere Stärke der Autorin Ute Bales, weil es ihr dank ihrer Schreibkunst gelingt, Schonungslosigkeit und Sensibilität zu vereinen.

Ute Bales, Keiner mehr da. Rhein-Mosel-Verlag 2024 255 Seiten, ISBN 978-3-89801-477-9, 13,50 EUR