„Ungeheure Fliehkräfte. Doch die Familie bleibt zusammen.“ So fasst Berndt Schulz meinen neuen Roman in seiner Rezension zusammen.

Fortwollen und Bleibenmüssen
Sylvia Schmieders bewegender Roman „zusammen bleiben“

Schon der letzte Roman von Sylvia Schmieder „Saling aus dem Wald“ hat uns bewegt und angerührt. Das Buch nahm uns mit, dorthin, wo die Waldwesen, Verwandlungskünstler und Neugiertiere wohnen, es führte uns hinein in das Dunkel jenseits der Lichtungen. In ähnlichen Tiefen, nur hier die des menschlichen Zusammenlebens in gesellschaftlich katastrophalen Zeiten, ist das neue Werk der Autorin angesiedelt. „zusammen bleiben“ heißt das programmatische Porträt einer Zeit und einiger besonderer Menschen.

Mari, aufgewachsen im Dreiländereck Ungarn-Slowakei-Österreich, ist ihrem Mann Ludwig nach Deutschland gefolgt. Die Familie gerät in den Sog der NS-Ideologie und ihres zunehmenden Alltagsterrors, sie kämpft um ihr physisches und seelisches Überleben. Dann wird Maris Bruder als kritischer Journalist von der Gestapo abgeholt und der Horror jener Zeit, hier Frankfurt am Main im Jahr 1939, rückt immer näher.

Die Autorin Sylvia Schmieder, geboren in Frankfurt, lebend in Freiburg, versteht es mit ihrer bilderreichen Sprache als feinsinnige Beobachterin Menschen und Situationen bildnerisch herauszuarbeiten wie lebendiges Gewebe aus Holz oder Beton. Personen und Umstände bekommen Plastizität. Die Lesenden werden hineingezogen in eine packende Handlung hart an der Wirklichkeit entlang. Indem die Autorin Szenen aus dem Alltag herausgreift, kleine Momente und Episoden, die das Große im Kleinen zeigen, lotet sie die Untiefen der Lebensumstände aus, als Risse, die sich durch die Familie ziehen. Die 29 Kapitel plus ein märchenhaftes Schlusskapitel fügen sich am Ende zusammen und zeigen, wie fest, aber auch wie gefährdet, ja, wie zerrissen Familienbande unter dem Außendruck der Gegenwart werden können. Desto dramatischer, wenn die Familie in brutaler Zeit noch das einzig Tröstliche und Zuverlässige ist.

Dabei verfügt Sylvia Schmieder trotz allem Realismus des Blickes über eine Sprachkraft, die voller Poesie steckt. Es ist aber keine selbstgefällige Poesie, die nur auf sich selbst deutet, sondern sie gewinnt dadurch große erzählerische Kraft, die im Dienst tieferer Erkenntnisse der Umstände steht. Und sie tröstet gerade da, wo sie aus dem Schrecken des konkreten Geschehens kommt und diesen Schrecken beleuchtet: „So, aber jetzt komm, setze dich an meinen ausgebreiteten Mantel, wir fliegen ganz weit und schnell nach Amerika, wo gerade ein Mondschiff steht …“

Der Roman holt zunächst einmal aus. Er beginnt im Jahr 1972 in Großmutters Rosenfeld, wo das Mädchen Claudia mit ihren Eltern Mari und Ludwig und der restlichen Familie eines Tages ankommt und ganz von selbst in die ausgebreiteten Arme der Großmutter hineinsaust, wie ein Pfennig in einen Magneten – dieses Bild schenkt uns die Autorin. So schön kann man von Nähe erzählen: am Anfang überwiegend von der kleinen Claudia und ihrer liebenswürdigen Großmutter.

Dann geht es zurück in der Zeit. Kein Wunder, dass die eigentliche Protagonistin Mari sich von dort, wo sie gelandet ist, nämlich Frankfurt am Main im Jahr 1939, gleich wieder „wegdenkt“. Und das ist untertrieben, die Sehnsucht nach ihrer Heimat „hebt sie fast in die Luft“. Alles zieht sie nach Hause, Richtung Wien, Pozsony, Nagyszombat, doch sie ist Verpflichtungen eingegangen, ihre Familie zählt auf sie. Also bleibt sie.

Die erzählte Zeit zerrt an den Menschen, nimmt keine Rücksicht auf ausgewogene Lebensplanung. Es geht wieder vorwärts, der Roman dehnt sich nach allen Seiten aus. Die Zeit springt nicht nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach den Plänen der Macht. Die Familie spricht nur ganz vorsichtig von „unserem neuen Zuhause“ – man weiß ja nie. Wir sind im Jahr 1954, dann 1970 oder wieder im Jahr 1972 angelangt und dann geht es eigentlich nur ein paar Jahre zurück, aber ganz weit zurück, wenn man die moralischen Grundsätze und Sicherheiten zwischen Menschen meint. Wir kommen wieder im Jahr 1939 an. Ein Jahr der Schrecken, von deren Ende noch niemand weiß.

Die Zerrissenheit, das Hin und Her zwischen Fortwollen und Bleibenmüssen, prägt als Grundmuster die folgende Handlung. Züge kommen an und fahren ab. Die Wehrmacht rückt im Osten vor, gerade sind die Truppen in die Slowakei einmarschiert, aber das ist nur eine Durchgangsstation. Mari würde am liebsten – wie einst Saling – in den Wald ziehen, in die Hohe Tatra beispielsweise. In dieser schrecklichen Zeit irgendwohin, ganz weit weg. „Man sollte gar nicht mehr unter Menschen leben“, denkt sie. Aber Menschen sind überall.

In kleinen, konkreten Szenen, genau gesehen und beobachtet, sprachlich kongenial wiedergegeben, erzählt die Autorin von Innenräumen und Außenstationen, von Menschen und den Begegnungen mit ihnen. Von der Familie und ihrer Schwerkraft. Das alles hält die Protagonistin am Ort fest. Doch die Sehnsucht nach „dem Anderen“ wird immer größer.

Und als die Familie dann wieder weiter muss, sind die Kinder erwachsener und vernünftiger als die Erwachsenen, irgendwie realitätsnäher. Die Großen seufzen unentwegt. Wissen sie nicht, dass jeder Seufzer einen Tropfen Blut aus dem Herzen entzieht? „Ich glaube, wir müssen jetzt los“, sagt einer, und das ist für den Moment gedacht, aber es beschreibt auch, im Subtext, die politische Lage. Denn die Familie kann in Nazi-Deutschland nicht bleiben, sie ist jetzt, wo überall inhaftiert und hingerichtet wird, gefährdet. Und wer sitzt nicht alles in „diesen Lagern“. Man spricht flüsternd davon, vorsichtig, will bestimmte Zustände gar nicht genau benennen. Maris Familie möchte sich mit sich selbst beschäftigen, aber was um sie herum geschieht, reißt sie auseinander. Der Bruder sitzt ja schon seit einiger Zeit „im Lager“. Hat jemand Nachricht von ihm? Nein.
Wir sind noch immer im Jahr 1939. Es wird höchste Zeit für die Ausreise. Noch schnell ein Stück unwiderstehlicher Apfelkuchen, dann geht es los. Der Zug bebt schon vor Bereitschaft, diesen Ort endgültig zu verlassen. Aber wo ankommen?
Der Roman assoziiert in diesen Kapiteln vor und zurück. Damit reflektiert die Autorin neben der erzählten Unruhe jener Jahre die Tatsache, dass jedes Individuum nie nur an einem einzigen Ort ist. Erinnerungen tauchen auf, Ängste auf das Morgen bezogen lassen die Gedanken fliegen. So schafft Sylvia Schmieder trotz der konkreten und auch spannenden Handlung ein fragiles Gewebe von Befindlichkeiten und Zuständen in einer höchst unsicheren Zeit. Eben tritt Mari noch ihrer Mutti gegenüber und empfängt ein Geburtstagsgeschenk, schon ertönen draußen laute Marschtritte – die Zeit ist aus ihren erträglichen und gewohnten Fugen. Die Autorin erzählt fast schmerzhaft genau davon. Wie ein Kind angeschaut wird und angelächelt wird von den Erwachsenen und es dadurch in „eine neue Höhe“ gehoben wird, ohne dies verstehen zu können. Und wie es dann auf die Straße tritt und stärker geworden ist, als es zuvor war. Wie fast gleichzeitig die Bomben fallen und das Kriegsgrauen tobt – und wie glücklich jemand ist, dass trotz allem ein Fenster heil geblieben ist, und nur einen einzigen Sprung hat.
In solchen Sequenzen zeigt sich Sylvia Schmieder als erzählende Autorin auf eine Art und Weise auktorial, also in der Perspektive „allwissend“, dass man als Lesender Bewunderung empfindet – für diese Sensibilität, für den nicht nur literaturtheoretisch sauberen, sondern vor allem menschenfreundlichen Fokus ihrer Perspektive. Erzählperspektive als Anteilnahme.

Fragile, gefährdete Welt, eine Zeit zum Verzweifeln: Als die Familie, von der erzählt wird, dann tatsächlich wieder in der alten Heimat ankommt, muss man gleich wieder in den Schutzraum unter der Erde. Mari verliert allmählich ihren Lebensmut, Ludwig will die kaputten Fenster abdichten, muss aber im Morgengrauen schon wieder an die Front, nach Italien. Noch ein Stück Brot mit Streichwurst – dann geht es los. Und in diesem ständigen Hin und Her geht schließlich die Heimat unter. Die Protagonisten sind erschöpft. Und desillusioniert. „Wenn etwas ist, buddelt ihr uns einfach aus“, sagt einer. So wenig Lebensmut steckt inzwischen in fast allen.

Und nach alldem? Beginnt nun eine Zeit wirklichen Friedens und der seelischen und physischen Erholung?
Nach dem Krieg finden sich die Überlebenden hier und dort und schließlich in Frankfurt am Main zusammen. Viel geschieht noch, es geht aufwärts und man versucht, „den verdammten Krieg“ zu vergessen. Aber da sind ja immer wieder die erinnerten Grauen der Konzentrationslager. Man versucht dennoch das zusammenzukehren, das übrigblieb und ruft auch die Urahnen dazu. Vielleicht sind die realen Wünsche aber nur in der Phantasie möglich. Und so erzählt im Sommer des Jahres 1970 eine Großmutter ihrer Enkelin ein Zaubermärchen, in dem die gute Fee Fantasia auftritt. „Es war einmal ein kleines Mädchen, … das wollte so gerne hinter die Türe gucken, wo das Leben verborgen ist …“ Und dazu muss es eine Reise antreten, die bis zum Mond führt, dorthin, wo tatsächlich Frieden herrscht. Vielleicht deshalb, weil aus den Mündern der Menschen keine Worte, sondern rote Perlen kommen.

Das Leben geht jedenfalls irgendwie weiter, es war letztlich stärker als der Tod. Die Familie kämpft zwar mit ihren Erinnerungen, versucht es aber mit einem neuen Heimatgefühl. Aber was ist in dieser Zeit, nach diesen Erfahrungen schon Heimat? Kein Ort. Nirgends.

Ungeheure Fliehkräfte. Doch die Familie bleibt zusammen.

Berndt Schulz

https://de.wikipedia.org/wiki/Berndt_Schulz